Einleitung
Einleitung
„Society Writ Large“ - Gesellschaft(en), Bewegungen und Perspektiven für die Forschung
Mit diesem Sammelband wird das Ergebnis einer intensiven Zusammenarbeit in einer interdisziplinären Gruppe von Autorinnen und Autoren vorgelegt. Die Beiträge führen Ansätze aus der Politikwissenschaft, der Ethnologie, den Kulturwissenschaften, der Soziologie und der Geschichtswissenschaft zusammen. Sie wurden überwiegend erstmals auf einer Tagung der Vereinigung für sozialwissenschaftliche Japanforschung im Herbst 1996 vorgestellt, anschließend anonym begutachtet und in mehreren Runden überarbeitet. Dreierlei Ansprüche haben dabei unsere Arbeit als Herausgeberinnen geleitet. Erstens sollten die Beiträge einen klaren und stimmigen theoretischen Rahmen aufweisen. Je deutlicher die zugrunde liegenden Konzeptionen, desto leichter würde es den Lesenden fallen, die einzelnen Analysen miteinander zu vergleichen, und desto eher könnten sie entsprechend ihrem jeweiligen Erkenntnisinteresse Schlüsse daraus ziehen - so lautet die Überlegung, die hinter diesem Anspruch steht.
Zweitens sollten die Einzelanalysen im zweiten Teil des Bandes empirisch gut fundiert sein. Das ist in hohem Maße gelungen. Alle Beiträge zu diesem Teil bilden originäre Untersuchungen, die überwiegend im Rahmen längerer Japanaufenthalte auf der Grundlage einer großen Zahl von Primärquellen entstanden sind. Damit werden in diesem Band eine Fülle von Daten und Auswertungen präsentiert, die in dieser Form bisher weder in nichtjapanischen Sprachen noch in der sozialwissenschaftlichen Forschung in Japan selbst vorliegen.
Drittens sollte die Gedankenführung in den Beiträgen auf klare Thesen zulaufen. Solche Thesen bilden nämlich die entscheidenden Sprungbretter zu Fragestellungen, die über das Thema „soziale Bewegungen in Japan“ hinausgehen. Je klarer die Ergebnisse der Analysen formuliert sind, desto leichter ergeben sich Anknüpfungspunkte zu anderen Forschungsbereichen: etwa über soziale Bewegungen in anderen Gesellschaften, zu anderen Themen in der Japanforschung oder zu grundsätzlichen Fragen der Gesellschaftsforschung überhaupt - sei sie nun sozialwissenschaftlich oder kulturwissenschaftlich ausgerichtet. Die Thematik „soziale Bewegungen in Japan“ bietet aufschlußreiche Einblicke für einen weiten Kreis von unterschiedlich Interessierten. Es lag uns als Herausgeberinnen daran, solche Perspektiven deutlich zu machen.
Wie weit es uns gelungen ist, diesen Ansprüchen gerecht zu werden, das mögen Sie bei der Lektüre dieses Bandes selbst beurteilen. Im folgenden möchten wir Sie auf diese Lektüre einstimmen, indem wir in einer Art Synopse wesentliche Aussagen aus den einzelnen Beiträgen zusammentragen, auf Berührungspunkte zwischen den Beiträgen hinweisen und einige übergreifende Themen- und Fragestellungen beleuchten.
Der erste Teil des Bandes faßt drei Beiträge zusammen, die sich dem Thema mit dem Ziel nähern, soziale Bewegungen in Japan überblicksartig einzuordnen. Historisch gesehen bildet der Pazifische Krieg, der für Japan - wenn auch ohne offizielle Kriegserklärung - mit dem „Zwischenfall von Mukden“ in China 1936 begann und mit der Kapitulation und einer Besetzung des Landes durch US-amerikanische Streitkräfte 1945 endete, eine epochale Zäsur in der modernen Geschichte des Landes. In den Kriegsjahren, insbesondere ab 1940, war das gesamte Land mobilisiert; unabhängige soziale Bewegungen existierten nicht. Dementsprechend ist auch der historische Überblick über soziale Bewegungen in Japan (genauer gesagt: in der modernen japanischen Geschichte) in diesem Band aufgeteilt. Die sozialen Bewegungen bis 1940 stellt Regine Mathias vor; einen Überblick über die Bewegungen der Nachkriegszeit bietet dagegen der Beitrag von Claudia Derichs.
Regine Mathias konzentriert sich in ihrem Beitrag auf die Entstehungsbedingungen und die gesellschaftlichen Wirkungen von sozialen Bewegungen im Japan der Vorkriegszeit. Sie weist nach, daß der Beginn solcher Bewegungen früher angesetzt werden muß als in sozialgeschichtlichen Darstellungen bislang üblich. Nicht erst die Gründung von Gewerkschaften und sozialistischen Vereinigungen in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, sondern bereits die „Bewegung für Freiheit und Volksrechte“, die in den achtziger Jahren für eine Verfassung warb, weist entsprechende Merkmale auf. Insgesamt bewirkte diese Bewegung jedoch ebensowenig unmittelbaren gesellschaftlichen Wandel wie alle anderen sozialen Bewegungen der Vorkriegszeit. Mathias führt dies vor allem auf strenge Überwachung und Repressionen durch staatliche Instanzen zurück, aber auch auf die ideologische Abgehobenheit vieler Gruppierungen, die sich stärker an aus dem Westen importierten Ideen orientierten als an der Lage im eigenen Lande. Trotzdem bilden diese Bewegungen einen wichtigen Indikator für Modernisierungsprozesse in der japanischen Gesellschaft dieser Epoche. Außerdem, so Mathias, haben die Bewegungen der Vorkriegszeit Vorbilder geschaffen und Diskurse eingeleitet, welche die Entwicklung der Bewegungen nach 1945 maßgeblich prägten.
Claudia Derichs ordnet ihren Überblick über die sozialen Bewegungen im Japan der Nachkriegszeit vor allem nach komparatistischen Gesichtspunkten. Wie sie zeigt, können Untersuchungen zum Fall Japan die internationale Forschung über soziale Bewegungen erheblich bereichern. Nach 1945 entstanden in Japan teilweise andere Bewegungen als in anderen Industrieländern mit einem parlamentarischen System; oder es entstanden zwar ähnliche Bewegungen, aber zu anderen Zeitpunkten und unter anderen Umständen. In Japan boten sich (und bieten sich bis heute) den sozialen Bewegungen deutlich andere Möglichkeiten zur politischen Partizipation. Überwiegend erscheinen die political opportunity structures in Japan weniger günstig als in anderen Ländern. Zugleich schaffen Besonderheiten in den Formen sozialer Organisation andere und teilweise günstigere Mobilisierungsbedingungen. Auch die Untersuchung von framing-Prozessen, also etwa der Art, wie gesellschaftliche Konflikte durch die Bewegungen konstruiert werden, bietet interessante Einblicke. Teilweise entfaltete sich ein breiter Konsens mit erheblichen mobilisierenden Wirkungen; teilweise fehlte ein solches einigendes Band aber auch völlig.
Der erste Teil des Sammelbandes wird abgerundet durch einen Überblick über die theoretischen Debatten, die sich in der japanischen Soziologie um den Gegenstand soziale Bewegungen ranken. Diese Diskussionen sind in der westlichen Literatur bisher so gut wie unbekannt; insofern bietet der Beitrag von Ulrike Nennstiel einen seltenen Einblick in eine scientific community außerhalb der USA und Europas. Nennstiel zufolge werden allerdings auch hier die Debatten wesentlich von Impulsen beeinflußt, die eben aus den USA und Europa stammen. Die Leistung japanischer Theoretiker besteht vor allem darin, diese Modelle zu modifizieren und neue Synthesen zu schaffen. Nennstiel verfolgt dieses Muster sowohl für den collective-behavior-Ansatz von Smelser wie auch für die resource-mobilization-Ansätze und - in geringerem Maße - für die europäische Debatte über „neue“ soziale Bewegungen. Mögliche Gründe für dieses Muster der Rezeption und Adaption findet sie vor allem in bestimmten Strukturen des soziologischen Wissenschaftsbetriebes in Japan.
Der Reigen der Einzelanalysen wird eröffnet durch einen Beitrag von Klaus Vollmer über die Emanzipationsbewegung der Burakumin, den Nachfahren der „unreinen Stände“ in Japan. Obwohl die Lebensverhältnisse in den früheren Ghettos sich dank aufwendiger Fördermaßnahmen seit den fünfziger Jahren erheblich verbessert haben, dauert die Diskriminierung von burakumin bei Einstellungsgesprächen, Eheschließungen und im täglichen Umgang an. Vollmer erklärt dies unter anderem mit Hilfe eines Modells von Norbert Elias. Danach erscheint die Neigung zu Differenzierungen im gesellschaftlichen Status als Teil des Versuches von Bessergestellten, Ungleichheiten in der Verteilung von Macht und Einfluß zu ihren Gunsten aufrechtzuerhalten. Ausgrenzungen wie die der burakumin bilden also geradezu ein grundlegendes Bewegungsgesetz in allen menschlichen Gesellschaften. Darüberhinaus analysiert Vollmer die umstrittene Taktik der burakumin-Befreiungsbewegung, Diskriminierung durch Gegendiskriminierung in Form direkter Aktionen zu bekämpfen. Die Auseinandersetzungen um diese Taktik sowohl innerhalb der Bewegung selbst als auch in der japanischen Öffentlichkeit werfen ein Schlaglicht auf einen größeren Zusammenhang, nämlich auf die Dialektik, die sich in der japanischen Nachkriegsgesellschaft aus der Forderung nach Gleichheit entfaltet hat.
Die beiden folgenden Analysen behandeln die Frauenbewegung in Japan, und zwar in verschiedenen Epochen. Zunächst untersucht Andrea Germer wichtige programmatische Auseinandersetzungen in der ersten japanischen Frauenbewegung. In den zwanziger Jahren wird das Thema Sexualität in feministischen Zeitschriften und anderen Veröffentlichungen erstmals im Zusammenhang mit der Forderung nach Selbstbestimmung für Frauen diskutiert. In diesem Zusammenhang entstehen auch neue Auffassungen vom Verhältnis der Geschlechter zueinander. Die Debatten weisen damit auf einen einschneidenden kulturgeschichtlichen Wandel in der japanischen Gesellschaft hin. Zugleich deckt Germer eine verblüffende Ungleichzeitigkeit auf: Die Debatten der japanischen Frauenbewegung in den zwanziger Jahren nehmen Themen vorweg, die fünfzig Jahre später in den Frauenbewegungen in Europa und den USA eine zentrale Rolle spielten. Dazu gehören der politische Gehalt privater Beziehungsmuster („Das Private ist politisch!“) und das Verhältnis von Sozialismus und Feminismus.
Auf den politischen Gehalt von Forderungen und Aktionen der neuen Frauenbewegung, auf das Verhältnis von Frauenbewegung und Frauenbewegung und Frauenpolitik in der Nachkriegszeit richtet sich das Augenmerk von Ilse Lenz. In kritischer Betrachtung dreier bekannter Analyseansätze aus der Bewegungsforschung zeigt Lenz auf, daß diesen - und offenbar nicht nur diesen - Ansätzen ein gender bias bescheinigt werden kann, der ihre Anwendung auf die japanische Frauenbewegung zwar nicht unmöglich macht, aber nach deutlichen Modifikationen bzw. der Berücksichtigung des Faktors gender verlangt. In ihrer umfassenden Darstellung der neuen japanischen Frauenbewegung urteilt Lenz, daß das Modell des patriarchalen Konsens in der japanischen Gesellschaft der Bewegung nach wie vor nur sehr begrenzte Möglichkeiten zur politischen Einflußnahme eröffnet. Andererseits läßt die Entwicklung in den 1990er Jahren deutliche Umbrüche im Geschlechterverhältnis erkennen, die sich auf den Modernisierungsdiskurs, auf die Sozialstrukturen und auf die politische Kultur Japans auswirken. Die neue Frauenbewegung als Untersuchungsgegenstand stellt für die Autorin geradezu ein Paradigma für alternative Entwürfe zu Modernisierung und Bewußtseinswandel im politischen wie auch im Alltagsleben dar.
Einer Bewegung, die maßgeblich von Frauen getragen wird, widmet sich Patricia Maclachlan in ihrem Beitrag. In ihrer Analyse der japanischen Verbraucherorganisationen geht sie der Frage nach, warum die Konsumentenbewegung noch deutlich schwächer agiert, als sich durch allgemeine Hinweise auf die free-rider-Problematik und den Zwang zu professionalisiertem Lobbying in Wirtschaftsfragen erklären läßt. Historische und institutionelle Faktoren wirken dabei zusammen und verstärken einander. Zum einen, so Maclachlan, ist die Verbraucherbewegung in Japan mehr als zwanzig Jahre früher als beispielsweise in den USA entstanden, und zwar noch während der Planwirtschaft mit rationierten Zuteilungen und wuchernden Schwarzmärkten in den ersten Nachkriegsjahren. Daraus resultiert bis heute eine enge Verbundenheit der Verbraucherorganisationen mit Vertretern des Klein- und Mittelstandes und der Bauern. Zum anderen bieten die Entscheidungsverfahren, die seit den sechziger Jahren in der öffentlichen Verwaltung und durch Gesetze etabliert wurden, wenig Transparenz und schwächen die Stellung der Verbraucherbewegung vor allem auf nationaler Ebene. Verbraucherorganisationen haben kaum Gelegenheit, eigene Themen zu initiieren, geschweige denn auf politische Entscheidungen Einfluß zu nehmen. Interessanterweise bietet sich allerdings auf lokaler Ebene vielfach ein anderes Bild, so daß hier geradezu von einem anderen Politikstil gesprochen werden kann.
Auch Anja Osiander untersucht in ihrem Beitrag eine Bewegung, deren Ursprünge bis in die frühe Nachkriegszeit zurückreichen. Es geht dabei um die Proteste gegen die größte Quecksilberverseuchung der Welt, die in den 1950er und 1960er Jahren in der Umgebung der company town Minamata die Gesundheit von Tausenden zerstörte. Eine soziale Bewegung entwickelte sich aus diesem Skandal aber erst mit zehnjähriger Verzögerung. Diese Verzögerung kann, so argumentiert Osiander, durch Verschiebungen in den Machtverhältnissen vor Ort und in der nationalen Politik nicht hinreichend erklärt werden. Zu einer landesweiten Solidarisierung mit den Opfern der Verseuchung kam es erst, als bestimmte „kollektive Phantasien“ (Elias), das heißt bestimmte Wir-Bilder in der Öffentlichkeit sich so weit gewandelt hatten, daß Industrialisierung nicht länger als Inbegriff für Fortschritt und Wohlstand glorifiziert wurde. Dank der Mobilisierung durch die Protestbewegung gewann der Name Minamata nun seinerseits den Charakter eines Schlagwortes für ein neues, anti-industrielles Wir-Bild. Die politischen Erfolge der Bewegung blieben begrenzt, aber die Veränderung der kollektiven Phantasien wirkt bis heute in der japanischen Öffentlichkeit nach.
Der Fall Minamata hat auch für die Untersuchung von Wilhelm Vosse Bedeutung. Als einer der vier großen Umweltskandale trug die Quecksilberverseuchung entscheidend zu Genese und Entfaltung der japanischen Umweltschutzbewegung bei. Vosse analysiert die Entwicklung dieser Bewegung von den Anfängen bis in die Gegenwart, gestützt auf umfangreiches Datenmaterial aus Eigen- und Fremderhebungen. Über die Bestandsaufnahme zur gegenwärtigen Situation der Umweltbewegung hinaus liefert der Autor eine Reihe von Erklärungen für die Schwäche und die Probleme dieser Bewegung. So liegt etwa in der juristischen Stellung von Organisationen, in denen Menschen sich für die Umwelt einsetzen möchten, ein wohl weithin unterschätztes Hemmnis nicht nur für die Gründung einer solchen Organisation, sondern insbesondere auch für den Handlungsspielraum ihrer Aktivisten und Unterstützer. Dies wiederum wirkt sich auf die politische und gesellschaftliche Bedeutung der Umweltbewegung aus, auf die Vosse vor dem Hintergrund ihrer Entwicklungsphasen in der Nachkriegszeit eingeht. Die politische Bedeutung der heutigen Umweltbewegung wird sowohl im internationalen als auch im national-historischen Vergleich als ziemlich gering bewertet (Tendenz allerdings steigend). Ihre gesellschaftliche Bedeutung ist aufgrund fehlender empirischer Belege nicht einfach bestimmbar, doch deutet sich unverkennbar der Einfluß des internationalen Umweltgeschehens (UN-Konferenzen) auf den Umweltschutzdiskurs in Japan an.
Wim Lunsing reichert den Band mit einer umfassenden Beschreibung und einer Typologisierung der Schwulen- und Lesbenbewegung in Japan an. Seine Ausführungen speisen sich zum größten Teil aus der Auswertung von Publikationen und Selbstzeugnissen aus der Bewegung. Mit dem Begriff „Bewegung“ geht Lunsing indes vorsichtig um, denn die Vielfalt von Akteuren und Aktionen bewirkt nicht immer soviel Kohäsion, daß ein Bewegungscharakter eindeutig belegt werden könnte. Prägend für die gegenwärtige Organisations- und Aktionsstruktur von Homosexuellen in Japan scheint ihre Spaltung in zwei konträre Strömungen (opposing forces) zu sein, die Lunsing mit den Begriffen „hard“ (katai) und „soft“ (yawarakai) umschreibt. Beide verfolgen unterschiedliche Ziele mit unterschiedlichen Mitteln: Während die eine Strömung eher auf konkrete politische Aktivitäten setzt und durchaus als „machtorientiert“ eingestuft werden kann, ist der anderen an der Mitwirkung an sozialem Wandel allgemein durch Dialog und Interaktion mit der Gesellschaft gelegen. Das Phänomen des Faktionalismus ist also nach wie vor aktuell und bestätigt ein weiteres Mal die Beobachtung Ishida Takeshis, daß Faktionalismus ein wichtiges Charakteristikum der japanischen Gesellschaft darstellt (ISHIDA 1984: 20). Insgesamt lassen die Aktivitäten der Bewegung keinen Zweifel an ihrer Dynamik aufkommen: „ much is happening in the field of gay and lesbian politics in Japan.“
Eher hart als weich wirkte wohl auch die Aufdeckung der Hintergründe für einen der folgenträchtigsten Arzneimittelschäden in Japan, den Roland Domenig untersucht. Die Verflechtung von Pharmaindustrie, Gesundheitsverwaltung und Ärzteschaft als Facette des iron triangle (Politik, Industrie, Bürokratie) verhinderte über Jahre hinweg die Versorgung japanischer Bluter mit hitzebehandelten Blutprodukten. Die Folge waren hunderte von HIV-Infektionen, die nicht nur massiven Protest der betroffenen Bluter selbst hervorriefen, sondern eine landesweite Protestbewegung beflügelten und dadurch für eine neue Dimension der Diskussion über Arzneimittel und deren Sicherheit in Japan sorgten. Domenig argumentiert, daß die Ursachen für Arzneimittelschäden eher in den politischen Entscheidungsstrukturen als bei einzelnen Personen zu suchen sind. Der Protest der Interessenvetretungen der Bluter in Japan richtete sich daher in erster Linie gegen die Intransparenz der politischen Entscheidungsprozesse. Die Entfaltung des Protestes zu einer sozialen Bewegung bewirkte eine wesentliche Stärkung der Bürgerinteressen gegenüber staatlichen Instanzen, beispielsweise durch die Einführung eines Ombudsmann-Systems. Ähnlich wie Ilse Lenz für die neue Frauenbewegung feststellt, vertritt allerdings auch Domenig die Einschätzung, daß erst ein Bewußtseinswandel auf breiter gesellschaftlicher Ebene, in diesem Falle bezogen auf den Umgang mit Arzneimitteln, substantiell zur Überwindung paternalistischer Strukturen und letztlich zu einer wirksameren politischen Partizipation führen kann.
Christoph Brumann schließlich stellt drei utopische Bewegungen vor, wobei er die Spezies der utopischen Bewegung in die Kategorie der „Revitalisierungsbewegungen“ einordnet. Mithilfe eines Erklärungsschemas des Ethnologen und Religionswissenschaftlers Anthony F. Wallace untersucht Brumann die unterschiedlichen Entwicklungen, Organisationsstrukturen und Ideologien von Ittôen, Atarashiki mura und Yamagi- shikai. Daß einzig die in der Nachkriegszeit gegründete Yamagishikai bis zum heutigen Tag regen Zulauf verzeichnen kann, führt Brumann auf drei wesentliche Ursachen zurück: auf den unterschiedlichen Character der Gründungsepochen, die unterschiedliche Art der leitenden Überzeugungen und die unterschiedliche Rolle der charismatischen Führer. Letzteres erscheint ihm entscheidend. In den Beispielen Brumanns wird, obgleich er nicht mit dieser Terminologie operiert, die Interdependenz von political opportunities und framing-Prozessen deutlich. Während die Yamagishikai in der wachstumsintensiven und demokratiefreudigen Nachkriegszeit günstigere Gelegenheitsstrukturen (opportunities) vorfand und vergleichsweise früh üben konnte, den ideologischen Rahmen der Gruppe ohne den charismatischen Führer zusammenzuhalten (framing), hatten Ittôen und Atarashiki mura in der Taishô-Zeit (1912-1926) schwierigere Startbedingungen und gingen eine lange und enge Bindung an ihre Führer ein. Die starke Bindung führte zur „Musealisierung der charismatischen Führer“ und machte ein framing ohne direkte Personenverehrung nahezu unmöglich.
Bei der Auswahl der Analysen zu einzelnen Bewegungen wurde der Originalität der Forschung der Vorzug gegeben vor dem Versuch, die Fragestellungen nach einem vorgegebenen Muster zu vereinheitlichen. Teilweise führt dies dazu, daß sich die Einschätzungen widersprechen. So spricht Wilhelm Vosse davon, daß aktuellen Umfrageergebnissen zufolge die Mehrheit der Japanerinnen und Japaner die Aktivitäten von sozialen Bewegungen befürworteten. Dagegen argumentiert Wim Lunsing auf der Grundlage einer Reihe von Interviews, daß unter Aktivisten in den schwulen und lesbischen Organisationen Vorbehalte gegen eine stärkere Mobilisierung bestünden, wobei das radikale Verhalten von Aktivisten aus anderen Bewegungen als abschreckendes Beispiel angeführt wird.
Ulrike Nennstiel bewertet die Ansätze, die in der japanischen Soziologie zu sozialen Bewegungen entwickelt worden sind, als wenig originell. Dagegen zitiert Claudia Derichs mehrere japanische Theoretiker, welche die Besonderheiten sozialer Bewegungen in Japan und die Eigenständigkeit der japanischen Theorieentwicklung betonen. Schließlich findet die These von Regine Mathias, es gebe in Japan eine eigene Form kollektiven Handelns, die in den bestehenden Typologien (z.B. in RASCHKE 1988) nicht berücksichtigt würde, in den übrigen Beiträgen wenig Widerhall. Den staatlich initiierten „Kampagnen“, von denen Mathias spricht, kommt die Kooptation von Teilen der Verbraucherbewegung in halbstaatlichen Einrichtungen, wie Patricia Maclachlan sie beschreibt, am nächsten; aber hier handelt es sich eher um einen Trend in Richtung Institutionalisierung als um einen eigenständigen Typus kollektiven Handelns. - Wir haben als Herausgeberinnen bewußt darauf verzichtet, diese Widersprüche zu beseitigen. Denn gerade hier treten Fragen auf, die weiterführende Forschungen inspirieren können.
Inspirierend wirkt es aber auch, wie einzelne Einschätzungen in hohem Maße übereinstimmen. Beispielsweise wird die These von Regine Mathias, daß die Bewegungen der Vorkriegszeit bestimmte Entwicklungen in der Nachkriegszeit vorbereitet hätten, eindrucksvoll bestätigt am Beispiel der Kooperativen, die Patricia Maclachlan in ihrer Untersuchung über die Verbraucherbewegung beschreibt. Auf ähnliche Weise findet der Hinweis von Claudia Derichs auf die ausdrückliche Ablehnung von Kaderorganisationen in Teilen der Neuen Linken eine Entsprechung in den Ausführungen von Anja Osiander zum Selbstverständnis der Minamata-Bewegung.
Einige dieser Übereinstimmungen weisen auch auf bestimmte allgemeine Muster in der Entwicklung und den Wirkungen sozialer Bewegungen in Japan hin. So heben mehrere Untersuchungen hervor, daß die Thematisierungskapazität bestimmter Bewegungen weitaus größer einzuschätzen sei als ihre Fähigkeit, unmittelbar politischen Wandel herbeizuführen. Dies trifft für die Bewegungen der Vorkriegszeit insgesamt zu; in der Nachkriegszeit läßt es sich aber auch für verschiedene utopische Bewegungen, für die Minamata-Bewegung und für die aktuelle Umweltbewegung feststellen.
Darüberhinaus erscheinen mehrere Bewegungen schon von ihrer Programmatik her als geradezu anti-politisch. Das paradigmatische Beispiel dafür bieten die utopischen Bewegungen. Aber dieselbe Beobachtung trifft auch auf die Minamata-Bewegung sowie große Teile der Umweltbewegung und der Schwulen- und Lesbenbewegung zu. Alle diese Bewegungen wirken, als seien sie vor allem darauf angelegt, Raum für das Ausleben bestimmter kollektiver Identitäten und Überzeugungen zu schaffen. Das ist durchaus mit Überzeugungs- und Aufklärungsaktivitäten verbunden, aber diese Aktivitäten bilden einen Selbstzweck, nicht ein Mittel zur politischen Einflußnahme. Anders ausgedrückt: In Japan finden sich auffallend viele „kulturorientierte“, im Unterschied zu „machtorientierten“ Bewegungen (vgl. RASCHKE 1988: 111, 116).
Dieses Entwicklungsmuster läßt sich mit einer anderen Beobachtung erklären, die ebenfalls in mehreren Analysen auftaucht. Die Träger sozialer Bewegungen in Japan verfügen nur über sehr begrenzte Möglichkeiten zur aktiven Teilnahme an politischen Entscheidungsprozessen. Das stellen nicht nur Regine Mathias und Claudia Derichs in ihren Überblicken für die Vorkriegs- wie die Nachkriegszeit fest. Auch die Untersuchungen der Verbraucherbewegung durch Patricia Maclachlan, der Umweltbewegung durch Wilhelm Vosse, der Protestbewegung der Aids-infizierten Bluter durch Roland Domenig und der Frauenbewegung durch Ilse Lenz bestätigen diese Einschätzung. Angesichts solcher Erfahrungen erscheint es nur folgerichtig, wenn sich soziale Bewegungen in Japan von vorneherein programmatisch am politischen System vorbei ausrichten.
Verallgemeinern wir das einmal und fügen es zu einer Hypothese zusammen: Das Auftreten kulturorientierter Bewegungen hängt davon ab, welche Einflußmöglichkeiten die politischen Institutionen für Initiativen aus sozialen Bewegungen bieten. Ein Ergebnis, das zu weiteren vergleichenden Untersuchungen einlädt. Läßt sich ein ähnlicher Zusammenhang auch in anderen Ländern beobachten? Läßt sich genaueres sagen darüber, wie Beschränkungen in der political-opportunities-structure einerseits und eine stärker kulturorientierte Programmatik und Strategie von sozialen Bewegungen andererseits zusammenhängen? Welche Auffassungen von Politik, Gesellschaft und Kultur werden verwendet, um eine apolitische oder gar anti-politische Ausrichtung einer Bewegung zu begründen? Hier eröffnen sich neue Perspektiven für die internationale Forschung zu sozialen Bewegungen.
Noch in einer weiteren Hinsicht erweisen sich die Beiträge dieses Bandes als anregend für die theoretischen Debatten über soziale Bewegungen, sei es in Japan oder anderswo. Es geht dabei um die Frage, wie soziale Bewegungen überhaupt definiert werden sollen. Für die Diskussionen, in denen dieser Sammelband vorbereitet wurde, diente eine Definition von Joachim Raschke als Ausgangspunkt (RASCHKE 1988: 77). Und tatsächlich ist diese Definition in die Mehrheit der Beiträge übernommen worden. Sie funktioniert offensichtlich in vielen Fällen als ein brauchbarer analytischer Schlüssel. Für einige Fragestellungen hat sie sich allerdings als unzureichend erwiesen.
So läßt sich der aktuelle Zustand der Umweltbewegung in Japan nur sehr bemüht damit beschreiben. Wie Wilhelm Vosse zeigt, vertritt die Mehrheit der Gruppierungen in dieser Bewegung zur Zeit eine ausgesprochen konservative Agenda - so konservativ, daß Gemeinsamkeiten zur Programmatik anderer sozialer Bewegungen kaum noch erkennbar werden. Trotzdem streben diese Gruppierungen im weitesten Sinne einen „grundlegenderen gesellschaftlichen Wandel“ an und erfüllen damit das entsprechende Kriterium in der Raschkeschen Definition. Die Begrifflichkeit erweist sich damit als so dehnbar, daß aus ihr kaum noch analytischer Nutzen gezogen werden kann.
Wenig hilfreich ist die Raschkesche Definition auch dann, wenn es um ausgesprochen kulturorientierte Bewegungen geht. Das trifft im Falle Japan vor allem auf die utopischen Bewegungen und auf die Schwulen- und Lesbenbewegung zu. Wim Lunsing und Patricia Maclachlan sprechen in ihren Beiträgen bewußt von einer Mehrzahl von Bewegungen. Wie Lunsing zeigt, besteht die raison d'être der Schwulen- und Lesbenbewegung(en) vor allem darin, Raum für alternative Lebensweisen zu schaffen und eine vom mainstream abweichende kollektive Identität zu stiften. Schon allein dadurch verändern sie die gesellschaftlichen Verhältnisse. Es liegt deshalb gar nicht im Interesse dieser verschiedenen Strömungen, sich darüber hinaus zu einer stärker zusammenhängenden Bewegung zu vernetzen.
Maclachlan führt indes vor Augen, daß der Begriff consumer movement zwar durchaus geläufig ist, sich dahinter aber - ähnlich wie bei der Umweltbewegung - so viele eigenständige lokale und nationale Organisationen verbergen, daß im Grunde nicht von einer „Bewegung“ die Rede sein dürfte. Sollte es eine kollektive Identität geben, dann müßte sie jenseits des „Konsumentenstatus“, der ja auf nahezu alle Gesellschaftsmitglieder zutrifft, spezifische, das Kollektiv eingrenzende Identifikationsmöglichkeiten bieten.
Auch bei den utopischen Bewegungen steht das Bemühen im Vordergrund, eine andere kollektive Identität zu schaffen. In gewisser Weise fassen die utopischen Bewegungen dabei die allgemeine Zielsetzung sozialer Bewegungen, nämlich gesellschaftlichen Wandel herbeizuführen, besonders radikal auf. Die gesellschaftliche Erneuerung, so läßt sich ihre Programmatik umschreiben, fängt bei uns selbst an. Deshalb steht die Veränderung der eigenen Lebensverhältnisse im Vordergrund; die Mobilisierung der übrigen Gesellschaft erscheint zwar auch wichtig, aber eindeutig nachgeordnet. Ein solches Verständnis gesellschaftlichen Wandels wird von der Raschkeschen Definition nicht erfaßt. Treffender läßt es sich, wie Christoph Brumann das tut, mit dem von Williams stammenden Begriff der „Revitalisierungsbewegungen“ beschreiben.
Einen dritten Bereich, in dem die Beiträge dieses Sammelbandes die theoretischen Debatten über soziale Bewegungen bereichern können, bildet die Frage, wie soziale Bewegungen einerseits und die Konstruktion gesellschaftlicher Konflikte andererseits zusammenhängen. Diese Debatte wird zur Zeit vor allem unter dem Stichwort „framing“ geführt. Hier lassen sich mit Hilfe von kulturwissenschaftlichen Ansätzen neue Fragestellungen und neue Erkenntnisse gewinnen.
Das klingt zum Beispiel in dem Beitrag von Christoph Brumann an. Er führt den Erfolg der Yamagishikai unter anderem darauf zurück, daß sie auf dogmatische Festlegungen verzichtet und eine rein prozedural argumentierende Ideologie als Erlösungsweg anbietet. Eine solche Begründung läßt aufhorchen: Vielleicht kann auch in anderen Zusammenhängen nachgewiesen werden, daß framing-Prozesse dann erfolgreicher sind, wenn eine bestimmte Art von Logik verwendet wird?
Noch weiter reicht der kultursoziologische Ansatz von Norbert Elias, den Anja Osiander und Klaus Vollmer in ihren Analysen einsetzen. Er ermöglicht es, den „frame“ sozusagen von beiden Seiten aus zu betrachten. Zugleich lassen sich damit bestimmte Wechselwirkungen in framing-Prozessen darstellen. Vollmer verwendet den Eliasschen Ansatz, um die Wechselwirkungen zwischen Etablierten und Außenseitern, also die Dynamik der gegenseitigen Ausgrenzung zwischen den burakumin und der „Normalgesellschaft“ zu beleuchten. Osiander dagegen betont die integrierende Wirkung bestimmter Wir-Bilder und erklärt damit die schwankenden Erfolge der Minamata-Bewegung bei der Mobilisierung der Öffentlichkeit für ihre Sache. Auch Andrea Germer wählt den Blick auf beide Seiten des „Rahmens“, um darzustellen, wie dieser Rahmen der Debatten innerhalb der ersten japanischen Frauenbewegung von anderen, einflußreicheren Diskursen teilweise vorgegeben ist, wie er aber auch gesprengt und langfristig verändert wird. Mit Hilfe solcher dialektisch argumentierender Ansätze können framing-Prozesse besser nachvollzogen werden. Zugleich öffnet diese Perspektive aber auch in verstärktem Maße den Blick für die Wechselwirkungen zwischen sozialen Bewegungen einerseits und den Gesellschaften, in denen sie sich bewegen, andererseits.
Das Beispiel AIDS und Blutkonservenskandal im Beitrag von Domenig weist unmittelbar darauf hin, wie sich unterschiedliche Perzeptionen in der Gesellschaft auf das framing in sozialen Bewegungen auswirken können: Bluter werden als „unschuldige Opfer“ des HI-Virus betrachtet, während Homosexualität und AIDS geradezu in einen „schuldhaften“ Zusammenhang gebracht werden.
Spätestens mit den letztgenannten Überlegungen wird deutlich, daß die Erforschung sozialer Bewegungen weit mehr sein kann als einfach eine weitere thematische Ausdifferenzierung im Wissenschaftsbetrieb. Soziale Bewegungen bilden nicht nur einen Spezialbereich der politischen Soziologie oder der Demokratieforschung, weitab von den „wirklich großen“ Fragen. Im Gegenteil, sie zu thematisieren, schafft einen Hebel, mit dem neue Ausblicke gerade auf die „wirklich großen“ Fragen der Gesellschaftsforschung möglich werden. Patricia Maclachlan formuliert das in ihrem Beitrag sehr treffend:
[The] examination of the behavior and effectiveness of the Japanese consumer movement is as much a snapshot of the political system writ large as it is a case study of networks of grass-roots citizens' groups.
Mit anderen Worten: Die Untersuchung der Verbraucherbewegung in Japan, ihrer Entstehungsbedingungen und Wirkungsmöglichkeiten führt zugleich ein in Zusammenhänge in den politischen Verhältnissen und in der Dynamik der Entscheidungsprozesse, die sich auch in anderen Fällen als wesentlich erweisen.
Auf ganz ähnliche Weise praktiziert Andrea Germer in ihrem Beitrag über Debatten in der ersten japanischen Frauenbewegung eine Kulturgeschichte „writ large“. Sie lehnt sich dabei ausdrücklich an Foucault an - und profitiert davon, daß die methodologischen Debatten über die mikroanalytische Erfassung von übergreifenden gesellschaftlichen Entwicklungen in den Kulturwissenschaften derzeit weiter vorangeschritten sind als in den Sozialwissenschaften. Ilse Lenz knüpft in gewisser Weise daran an, indem sie den gender-Aspekt mit politischer Kultur und verschiedenen theoretischen Ansätzen aus der internationalen Bewegungsforschung in Verbindung bringt. Auch Klaus Vollmer weist in seinem Beitrag darauf hin, daß die Einsichten, die sich aus der Untersuchung der burakumin-Diskriminierung und der entsprechenden Befreiungsbewegung ergeben, weit über den Gegenstand hinaus reichen. Die Auseinandersetzungen um die Emanzipation der burakumin, so formuliert es Vollmer, sind nicht einfach nur das „Problem einer Minderheit an der sozialen Peripherie“. Sie bilden einen neuralgischen Punkt in den gesellschaftlichen Entwicklungen im Japan der Nachkriegszeit, einen „Indikator für die Befindlichkeit der Mehrheit und den Druck der Verhältnisse im Herzen der japanischen Gesellschaft“.
Ähnliche Ausblicke lassen sich auch aus den übrigen Beiträgen in diesem Band ableiten. Beispielsweise aus dem Hinweis von Regine Mathias auf bestimmte „,unterirdische' Kontinuitätslinien“ zwischen der Vorkriegszeit und der Nachkriegszeit in Japan. Der Blick auf Vorläufer in den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts kann nicht nur dazu beitragen, die Entwicklung verschiedener sozialer Bewegungen nach 1945 zu erklären, sondern auch manch anderen raschen Wandel in dieser Zeit, und zwar vermutlich „plausibler, als es die vielen Modelle von [japanischer] Einzigartigkeit, besonderer Mentalität etc. bisher vermocht haben“. Auch Wim Lunsing sieht in dem jüngsten Aufschwung der Schwulen- und Lesbenbewegung Anzeichen für einen übergreifenden Wandel in der japanischen Gesellschaft - einen Wandel mit vielfältigen Ursachen. Lunsing spricht von
a larger socio-cultural change that may have set in as early as the 1970s, when the first gay magazines started to be published, the second wave of feminism reached Japan and the percentage of economic growth started to decrease.
Überwiegend als Abschluß einer Einzelanalyse formuliert, kommt solchen Ausblicken lediglich der Status von Hypothesen zu. Aber genau darin liegt ja die Würze. Wir hoffen mit den Autorinnen und Autoren, daß Sie sich von der Lektüre dieses Bandes anregen lassen, darüber nachzudenken, wie Gesellschaft(en) und Bewegungen zusammenhängen - und welche Perspektiven für die Forschung sich daraus ergeben können.